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Angehörige der Opfer des Unglücks demonstrieren im April 2018 in Athen. Foto: Salinia Stroux

Im März 2018 erreichen drei Menschen mit letzter Kraft das Ufer der griechischen Insel Agathonisi. Zwei von ihnen halten jeweils ein totes Kind im Arm. Sie sind die einzigen Überlebenden eines Schiffsunglücks. Sieben Jahre später urteilt der Europäische Menschenrechtsgerichtshof: Die Küstenwache hätte ihre Angehörigen retten können – und müssen.

Es ist ein ver­zwei­fel­ter Hil­fe­ruf, den Fresh­ta, eine 26-jäh­ri­ge Men­schen­rechts­an­wäl­tin aus Afgha­ni­stan, am frü­hen Mor­gen des 16. März 2018 per Sprach­nach­richt an ihren Bru­der Darab schickt: »Das Boot sinkt! Wir sin­ken!« Es wird das letz­te Lebens­zei­chen sein, das ihre Fami­lie von ihr erhält. Weni­ge Stun­den spä­ter ist sie tot. Sie ertrinkt in Sicht­wei­te der klei­nen grie­chi­schen Insel Agathonisi.

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Mit ihr ster­ben an die­sem Tag auch ihr Vater, zwei Geschwis­ter sowie vier Cou­sins und Cou­si­nen. Ins­ge­samt 16 Men­schen aus Afgha­ni­stan und dem Irak, dar­un­ter neun Kin­der kom­men ums Leben. Nur zwei Frau­en und ein Mann schaf­fen es ans ret­ten­de Ufer von Aga­tho­ni­si, nach­dem sie stun­den­lang auf offe­ner See im kal­ten Was­ser getrie­ben waren und zuse­hen muss­ten, wie ihre Kin­der und engs­ten Ange­hö­ri­gen um sie her­um ertran­ken. Bei­de Frau­en hal­ten jeweils eines ihrer toten Kin­der im Arm, als sie den Strand erreichen.

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Anhand der Berich­te der Über­le­ben­den und ihrer Ange­hö­ri­gen wird schnell klar: Ihre Liebs­ten hät­ten geret­tet wer­den kön­nen, die Kata­stro­phe war ver­meid­bar. Die Hin­ter­blie­be­nen kön­nen nach­wei­sen, dass Fresh­t­as Bru­der Darab, der sich zum Zeit­punkt der Kata­stro­phe auf Samos in einem Flücht­lings­la­ger befand, sofort nach Erhalt der Sprach­nach­richt die grie­chi­schen Ret­tungs­kräf­te, die Poli­zei und die Küs­ten­wa­che über den Unter­gang des Boots infor­mier­te. Er lie­fer­te ihnen sogar die genau­en Koor­di­na­ten, denn Fresh­ta hat­te über Whats­App ihren Live-Stand­ort mit ihrem Bru­der geteilt. Den gan­zen Tag über bit­tet Darab die grie­chi­schen Behör­den ver­zwei­felt, die Schiff­brü­chi­gen zu ret­ten. Doch er wird abge­wim­melt, eine Ret­tungs­ope­ra­ti­on wird nicht ein­ge­lei­tet. Erst als Anwohner*innen von Aga­tho­ni­si am nächs­ten Mor­gen die völ­lig ent­kräf­te­ten Über­le­ben­den fin­den und zur Poli­zei brin­gen, star­tet die Küs­ten­wa­che eine groß ange­leg­te Ret­tungs­ak­ti­on. Mehr als 24 Stun­den nach dem Unter­gang ber­gen sie jedoch nur noch Leichen.

Die Chatprotokolle belegen, dass Darab verzweifelt versuchte, die Behörden zu einem Rettungseinsatz zu bewegen.

Gerechtigkeit und Aufklärung? Nicht in Griechenland.

Der Fall erreg­te damals inter­na­tio­na­le Auf­merk­sam­keit, zahl­rei­che Medi­en berich­te­ten über die Kata­stro­phe. Sowohl der dama­li­ge grie­chi­sche Migra­ti­ons­mi­nis­ter als auch der für die Küs­ten­wa­che zustän­di­ge Schiff­fahrts­mi­nis­ter besu­chen die Über­le­ben­den im Kran­ken­haus auf Samos und ver­spre­chen Auf­klä­rung. Ein lee­res Ver­spre­chen, wie sich her­aus­stellt: Die Küs­ten­wa­che behaup­tet, das Boot sei nicht am 16. März, son­dern erst einen Tag spä­ter gesun­ken, kurz bevor die Über­le­ben­den auf Aga­tho­ni­si gefun­den wur­den. Man habe dar­auf­hin umge­hend eine Ret­tungs­ak­ti­on gestar­tet, aber nur noch Lei­chen ber­gen kön­nen. Zwei inter­ne Unter­su­chun­gen der Küs­ten­wa­che und der Hafen­be­hör­de von Samos machen sich – wenig über­ra­schend – die­se Ver­si­on zu eigen und ent­las­ten die Küs­ten­wa­che. Die Ver­fah­ren wer­den eingestellt.

Der Weg nach Deutschland

Kurz nach dem Schiffs­un­glück mel­det sich ein in Deutsch­land leben­der Ver­wand­ter von Fresh­ta und Darab bei PRO ASYL und berich­tet, was pas­siert ist. Kolleg*innen unse­rer grie­chi­schen Schwes­ter­or­ga­ni­sa­ti­on Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA) machen sich dar­auf­hin umge­hend auf den Weg nach Samos und ste­hen den Über­le­ben­den und ihren Ange­hö­ri­gen in die­sen schwe­ren Stun­den bei. Sie unter­stüt­zen bei der Iden­ti­fi­zie­rung der Toten und der Über­füh­rung der Lei­chen nach Afgha­ni­stan und in den Irak. Sie orga­ni­sie­ren eine psy­cho­lo­gi­sche Erst­ver­sor­gung und sor­gen dafür, dass die Über­le­ben­den und ihre Ange­hö­ri­gen nach Athen trans­fe­riert wer­den. Außer­dem über­neh­men sie die recht­li­che Ver­tre­tung, sichern Bewei­se und rekon­stru­ie­ren die Umstän­de der Katastrophe.

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Fahi­ma, eine von drei Über­le­ben­den. Sie ver­lor ihre vier Kin­der bei der Schiffskatastrophe.
Über 30.000

Men­schen ertran­ken seit 2014 im Mittelmeer

Die bei­den afgha­ni­schen Fami­li­en, die an Bord des Schif­fes waren, haben ins­ge­samt acht tote Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge zu bekla­gen. Aus Darabs Fami­lie ertrin­ken neben sei­ner Schwes­ter Fresh­ta auch sein Vater und zwei wei­te­re Geschwis­ter. Sei­ne Mut­ter Zarg­ho­na sowie sei­ne Schwes­ter Mari­am waren wie er schon eini­ge Wochen vor­her in Grie­chen­land ange­kom­men. Fahi­ma, eine Tan­te von Darab, ist eine der drei Über­le­ben­den der Kata­stro­phe. Ihre vier Kin­der sind nach stun­den­lan­gem Über­le­bens­kampf im kal­ten Was­ser alle vor ihren Augen ertrun­ken. Dem SPIEGEL gibt sie nach der Kata­stro­phe zu Pro­to­koll, dass nur zwei Din­ge sie am Leben hiel­ten: Gerech­tig­keit für die Toten. Und die Aus­sicht dar­auf, mit ihrer Fami­lie in Deutsch­land ver­eint zu werden.

Obwohl die Chan­cen dafür schlecht ste­hen, set­zen PRO ASYL und die Rechtsanwält*innen von RSA alles in Bewe­gung. Und sie haben Erfolg: Darab, Mari­am, Zarg­ho­na und Fahi­ma erhal­ten von Deutsch­land eine Auf­nah­me­zu­sa­ge und kön­nen eini­ge Mona­te spä­ter zu ihren Ver­wand­ten flie­gen. Auch in Deutsch­land unter­stützt PRO ASYL die Fami­lie wei­ter. Über den PRO ASYL-Rechts­hil­fe­fonds wird eine anwalt­li­che Ver­tre­tung für ihr Asyl­ver­fah­ren finan­ziert. Mitt­ler­wei­le leben Darab, Mari­am, ihre Tan­te und ihre Mut­ter seit sie­ben Jah­ren in Deutsch­land und haben Flüchtlingsschutz.

Vom Marinegericht bis zum EGMR – der Kampf um Aufklärung

Zwei Wochen nach dem Schiffs­un­glück reicht Mari­an­na Tze­fera­kou, Rechts­an­wäl­tin von RSA, zusam­men mit Kol­le­gin­nen im Namen der drei Über­le­ben­den sowie im Namen von Zarg­ho­na, der Mut­ter der ertrun­ke­nen Fresh­ta, eine Straf­an­zei­ge gegen die Küs­ten­wa­che bei der zustän­di­gen Staats­an­walt­schaft am Mari­n­ege­richt von Pirä­us ein. Die Staats­an­walt­schaft nimmt zwar Vor­er­mitt­lun­gen auf, schließt sich letzt­lich aber den Behaup­tun­gen der Küs­ten­wa­che an und stellt das Ver­fah­ren ein. Auch in der zwei­ten Instanz wird das Ver­fah­ren ein­ge­stellt. Die Sprach­nach­richt von Fresh­ta an ihren Bru­der Darab sowie die über­ein­stim­men­den Aus­sa­gen der Über­le­ben­den wer­den von der grie­chi­schen Jus­tiz ange­zwei­felt bezie­hungs­wei­se nicht aus­rei­chend berück­sich­tigt. Damit ist klar: Gerech­tig­keit für die Toten wird es in Grie­chen­land nicht geben.

Des­we­gen rei­chen die Anwäl­tin­nen von RSA im Sep­tem­ber 2020 Beschwer­de beim Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) in Straß­burg ein. Sie rügt einen dop­pel­ten Ver­stoß des so grund­le­gen­den wie selbst­ver­ständ­li­chen Rechts auf Leben, das in der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on in Arti­kel 2 zu fin­den ist: Zum einen, weil die Küs­ten­wa­che nicht alles in ihrer Macht Ste­hen­de unter­nom­men hat, um die Schiff­brü­chi­gen zu ret­ten, obwohl sie nach­weis­lich früh­zei­tig über die aku­te Lebens­ge­fahr infor­miert war. Zum ande­ren rügen die Anwäl­tin­nen, dass die grie­chi­schen Behör­den kein rechts­staat­li­ches Ver­fah­ren durch­ge­führt haben, um die Umstän­de der Kata­stro­phe zwei­fels­frei auf­zu­klä­ren und die Ver­ant­wort­li­chen zur Rechen­schaft zu ziehen.

Lange erwartetes Urteil: EGMR verurteilt Griechenland wegen unterlassener Rettung und fehlender Aufklärung

Sie­ben Jah­re nach der Kata­stro­phe hat der EGMR nun Recht gespro­chen. In sei­nem Urteil vom 14. Okto­ber 2025 (F.M. und ande­re gegen Grie­chen­land, Nr. 17622/21) folgt der Gerichts­hof der Argu­men­ta­ti­on der RSA-Anwäl­tin­nen auf gan­zer Linie. Er betont, dass im vor­lie­gen­den Fall kei­ne aus­rei­chen­den Bewei­se vor­lie­gen, um sämt­li­che Umstän­de des Schiffs­un­glücks zwei­fels­frei auf­zu­klä­ren. Dies las­tet er jedoch nicht den Kläger*innen an, son­dern stellt fest, dass dies auf das »Feh­len einer gründ­li­chen und wirk­sa­men Unter­su­chung durch die natio­na­len Behör­den zurück­zu­füh­ren ist« (Rn. 287). Über­haupt lässt der Gerichts­hof kein gutes Haar an der grie­chi­schen Jus­tiz und bezwei­felt grund­sätz­lich die Unab­hän­gig­keit der Behör­den, die die Ermitt­lun­gen zu dem töd­li­chen Schiffs­un­ter­gang durch­ge­führt haben. So sei­en sämt­li­che Ver­fah­ren in Grie­chen­land, dar­un­ter auch das Ermitt­lungs­ver­fah­ren am Mari­n­ege­richt von Pirä­us, von Stel­len durch­ge­führt wor­den, die Teil der­sel­ben mili­tä­ri­schen Hier­ar­chie sind, zu der auch die Küs­ten­wa­che gehört (Rn. 224). Zudem sei die Sprach­nach­richt von Fresh­ta an ihren Bru­der Darab als ein­schlä­gi­ger Beweis nicht aus­rei­chend berück­sich­tigt wor­den und die gerichts­me­di­zi­ni­sche Unter­su­chung man­gel­haft gewe­sen (Rn. 225f.).

Im Ergeb­nis bestä­tigt der Gerichts­hof das, was die Über­le­ben­den und Ange­hö­ri­gen von Anfang an gesagt hat­ten: Die grie­chi­schen Behör­den hät­ten allein schon auf­grund der Hil­fe­ru­fe von Darab, der Sprach­nach­richt von Fresh­ta und den über­mit­tel­ten Koor­di­na­ten wis­sen müs­sen, dass eine rea­le und unmit­tel­ba­re Gefahr für Men­schen­le­ben bestand (Rn. 300). Ihrer dadurch aus­ge­lös­ten Pflicht zur Ret­tung von Men­schen­le­ben sind sie nicht nach­ge­kom­men. In den Wor­ten des Gerichts­hofs: »[Die] grie­chi­schen Behör­den [haben] nicht alles getan, was ver­nünf­ti­ger­wei­se von ihnen erwar­tet wer­den konn­te, um [den Kläger*innen] das in Arti­kel 2 der Kon­ven­ti­on gefor­der­te Schutz­ni­veau zu bie­ten« (Rn. 309).

Ein Stück Gerechtigkeit

Für die Über­le­ben­den und ihre Ange­hö­ri­gen bedeu­tet das Urteil ein Stück Gerech­tig­keit und zumin­dest die Aner­ken­nung des uner­mess­li­chen Unrechts, das ihnen ange­tan wur­de. Es ist auch der Beweis, dass sie von Anfang an die Wahr­heit gesagt haben, wäh­rend staat­li­che Behör­den Tat­sa­chen ver­dreh­ten und ihre Schuld abstrit­ten. Zur Rechen­schaft gezo­gen wird für die unter­las­se­ne Ret­tung jedoch nie­mand – der EGMR ist kein Strafgerichtshof.

Eine Ange­hö­ri­ge bringt es im Gespräch mit PRO ASYL auf den Punkt: »Wir machen die­ses Ver­fah­ren nicht für uns, es bringt nie­man­den zurück. Wir machen das, damit ande­re Fami­li­en in Zukunft nicht das Glei­che durch­lei­den müs­sen, was uns wider­fah­ren ist.«

Serie von Verurteilungen Griechenlands durch den EGMR

Doch bis dahin ist es noch ein wei­ter Weg. Es ist nicht das ers­te Mal, dass Grie­chen­land vom EGMR wegen unter­las­se­ner See­not­ret­tung ver­ur­teilt wur­de. In einem von PRO ASYL unter­stütz­ten Ver­fah­ren hat der Gerichts­hof Grie­chen­land bereits 2022 in einem weg­wei­sen­den Urteil wegen des Todes von elf Men­schen im Rah­men einer Push­back-Ope­ra­ti­on der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che vor der Insel Farm­a­ko­ni­si in allen zen­tra­len Punk­ten ver­ur­teilt. Im Janu­ar 2024 und im März 2025 folg­ten Ver­ur­tei­lun­gen wegen töd­li­cher Schüs­se durch Bediens­te­te der Küs­ten­wa­che auf Flücht­lings­boo­te. In bei­den Fäl­len haben Anwält*innen von RSA die Ange­hö­ri­gen vor dem EGMR vertreten.

Im Fall des Unter­gangs eines völ­lig über­la­de­nen Schiffs mit rund 650 Toten im Juni 2023 vor der grie­chi­schen Stadt Pylos, bei dem die Küs­ten­wa­che über Stun­den hin­weg die Ret­tung ver­wei­gert hat­te, hat die zustän­di­ge Staats­an­walt­schaft am Mari­n­ege­richt von Pirä­us im Mai 2025 tat­säch­lich Ankla­ge gegen 17 teils hoch­ran­gi­ge Bediens­te­te der Küs­ten­wa­che erho­ben. Ins Rol­len gekom­men war das Ermitt­lungs­ver­fah­ren durch eine Straf­an­zei­ge von 40 Über­le­ben­den, der sich inzwi­schen wei­te­re Über­le­ben­de ange­schlos­sen haben. Etwa die Hälf­te der an dem Ver­fah­ren betei­lig­ten Über­le­ben­den wird von Anwält*innen von RSA vertreten.

(ame)